© Rudolf Jagusch.
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Gisbert Hauer, den fast alle nur »Lump« nannten, war der unbeliebteste Zeitgenosse Antweilers. Ließ er sich auf der Straße blicken, wechselten die Dorfbewohner die Seite. Nicht, dass Gisbert das störte. Nein, er genoss seinen zweifelhaften Ruhm. Er sonnte sich förmlich in der Aufmerksamkeit. Letztens hatte man sogar auf ihn geschossen. Geschossen! Man muss sich das vorstellen, auf ihn gezielt und abgedrückt. Gut, es war zwar nur ein Luftgewehr gewesen, aber es hatte trotzdem heftig in der Schulter gezwickt.
»Du musst das der Polizei melden«, hatte seine Frau Lisbeth gefordert.
Lässig hatte er abgewinkt. »Hätte derjenige das wirklich ernst gemeint, dann hätte er sein Kleinkaliber genommen.«
»Trotzdem. So fängt es an, später dann … wer weiß, was als nächstes kommt. Besser, du hörst auf.«
»Niemals!«, hatte er entschieden abgelehnt. Mit dem, was er mit seiner Aktion im Dorf losgetreten hatte, war er endlich der Star und stand im Mittelpunkt. Um keinen Preis der Welt wollte er das aufgeben.
Okay, insgeheim konnte er Lisbeths Sorge nachvollziehen. Er markierte zwar den starken Mann, bei dem Anfeindungen anscheinend abprallten wie ein ungenau geworfener Basketball vom Korbring. Gleichwohl musste er insgeheim zugeben: In letzter Zeit war ihm doch ein wenig mulmig zumute.
Aber egal. Die Tatsachen mussten genannt werden, denn war die Wahrheit nicht das Wichtigste überhaupt? Was er tat, war daher geradezu eine moralische Verpflichtung.
Vielleicht – aber auch nur vielleicht – hätte er Milde walten lassen und den Mund gehalten, wenn sie ihn damals nicht verspottet und gedemütigt hätten. Die anderen, seine Nachbarn, die Dorfbewohner, seine ehemaligen Schulkameraden, die jetzt in den von ihren Eltern geerbten Häusern hockten, und ihm die Pest an den Hals wünschten. So aber nicht. Fettwammes hatten sie ihn gerufen, damals, in den Schulpausen. Mit angespitzten Bleistiften hatten sie ihn drangsaliert, immer wieder reingepickt in seine Fettrollen. Sie hatten sich daran ergötzt, wie er zusammenzuckte und vor Pein und Scham zu weinen anfing. Noch heute schauderte Gisbert, wenn er an seine Grundschulzeit dachte. Es war für ihn die Hölle auf Erden gewesen.
»Verzeihen ist die beste Rache«, hatte Lisbeth zu ihm gesagt, während sie die Glassplitter vom Fußboden aufgekehrt hatte.
Der Stein, mit dem der Unbekannte die Scheibe eingeworfen hatte, lag vor ihm auf dem Schreibtisch und diente jetzt als Briefbeschwerer.
Gisbert hatte höhnisch gelacht. »Ach was. Rache ist süß. Sie schmeckt köstlich, macht aber nicht dick.« Er hatte er sich auf den feisten Bauch geklopft und ergänzt: »Apropos süß … hast du noch ein paar von deinen leckeren Keksen?«
Die Standuhr im Flur, die seine Mutter, Gott hab sie selig, so geliebt hatte, schlug Mitternacht.
Gisbert klickte mit dem Mauszeiger auf »Senden«. Es war vollbracht, die nächste Podcastfolge »Kirmesklopperei – Erst saufen, dann raufen« war On Air. Spätestens morgen Nachmittag würde das 800-Seelen-Dorf wieder in Aufruhr sein. Inzwischen luden fast alle Einwohner seine neueste Episode innerhalb kürzester Zeit herunter. Seit dem Start seines Podcastkanals »Sündenpfuhl Antweiler« mit der ersten Folge »Hu-Hu-Hurerei – Wer macht mit wem rum?« waren die Downloads von Folge zu Folge gestiegen.
»Podcast? Was ist denn das für ein neumodischer Kram?«, hatte Lisbeth gefragt, während er vor vier Wochen sein Mikrofon für die erste Aufnahme anschloss.
»Ist ähnlich wie Radio«, hatte er erklärt. »Nur über das Internet.«
»Und das hört jemand? Da kann man doch direkt seinen Lieblingssender einschalten. Ist doch viel einfacher.«
»Radio ist out, absolut old school. Podcast ist die Zukunft. Da macht man sein eigenes Programm, niemand redet rein.«
Spöttisch hatte Lisbeth eine Augenbraue angehoben. »Na, wenn du meinst.«
»Du wirst schon sehen. Mir werden die Leute zuhören, das ganze Dorf, wart’s nur ab.« Und er hatte recht behalten.
Die Haustürglocke schlug an.
Augenblicklich schoss Gisberts Puls in die Höhe. Das passierte in den letzten Nächten häufiger. Sie wollten ihn fertig machen. Doch diesmal hatte er vorgesorgt. Vorgestern hatte er sich in Euskirchen einen Baseballschläger besorgt.
Gisbert packte das bereitstehende Holz, riss im Flur die Haustür auf und spähte in die Dunkelheit. Der Vollmond drang durch die Regenwolken und tauchte das Dorf in ein bläuliches Licht. Die Dächer der Häuser glitzerten feucht, der Burgturm hob sich als fast schwarzer Schatten gegen den dunkelgrauen Horizont ab. Es roch faulig. Irgendein Bauer hatte am Nachmittag seine Gülle ausgefahren.
Gisbert meinte, rechter Hand Schritte zu hören, und rannte los. Vorbei ging es an den Tonwerken in Richtung St. Johann Baptist. Der Regen wurde stärker, klatschnass klebte die Kleidung an seinem Körper, aber es störte ihn nicht. Wichtig war nur, dem Typen das nächtliche Klingen aus dem Kopf zu schlagen. Gisbert hetzte noch einige Meter weiter, blieb dann keuchend stehen. Rasend vor Wut drehte er sich im Kreis. Wo war der Kerl hin?
Ein Uhu krächzte.
Erst jetzt registrierte Gisbert die Grabsteine um sich herum.
Der Friedhof!
Nichts hasste er mehr, als den Friedhof. Hier vermoderten die Überreste geliebter Menschen … hier war seine …
Nein! Nicht! Nicht daran denken!
Seine Wut wich einer Panik, die seine Kehle zuschnürte. Übergangslos zitterte er am ganzen Körper. Der Baseballschläger klatschte auf dem matschigen Boden auf, als seine Finger sich wie von allein von dem hölzernen Griff gelöst hatten. Gisbert fasste sich an den Hals, taumelte einen Schritt zurück, und trat plötzlich ins Leere. Er schrie laut und fiel rücklings in eine Grube. Hart prallte er auf dem Boden auf, ein stechender Schmerz schoss sein Rückgrat hinauf bis unter die Schädeldecke. Für einen Augenblick tanzten Sterne vor seinen Augen, dann klärte sich der Blick. Um ihn herum ragten schlammige Wände empor, die zum Himmel zu wachsen schienen.
Ein Grab!
Sie hatten ihn hierher gelockt, um ihn umzubringen. Seine Nachbarn, die anderen, alle! Sie wollten ihn loswerden, sie würden ihn töten. Sie hatten ihm sein Grab geschaufelt.
Gisbert versuchte, sich aufzurappeln. Er musste raus aus dem Loch. Doch sein Körper fühlte sich an, als stände ihm ein Lastwagen auf der Brust.
Plötzlich tauchten sie auf. Gesichter! Oben am Rand des Grabes schwebten sie, der Pfarrer, dem er sich in der Podcastfolge »Messwein, Opjesetzter und Schabau – So säuft die katholische Kirche« gewidmet hatte. Eine weitere Fratze direkt daneben, der Ortsvorsteher, Podcastfolge »Was stört mich mein Geschwätz von gestern – Hauptsache gewählt«. Es folgte der Meister der Autowerkstatt, Folge »Handschuhfach klappert? Diagnose: Motorschaden – Kasse machen, aber richtig«. Da! Doktor Poensgen, Episode »Scharlatan in Weiß – Das Wartezimmer zur Hölle«. Der Kurpfuscher durfte ja nicht fehlen.
Gisbert hatte ihre Machenschaften aufgedeckt, und dafür sannen sie jetzt auf Rache. Sie steckten alle unter einer Decke, Sodom und Gomorrha in der Eifel.
»Ihr Mörder!«, krächzte Gisbert. Er hörte ein Schaufelblatt, dass sich ins Erdreich grub. Kurz darauf prasselte Dreck von oben herunter und er schmeckte Erde.
Sie schaufelten ihn zu!
Bei lebendigem Leib!
Die Panik versetzte Gisbert einen Stich in die Brust, so schmerzhaft, als hätte sich ein Speer mitten durch sein Herz gebohrt.
Sein Sichtfeld verengte sich, die Fratzen verschwammen.
Dann erlöste ihn eine tiefe Schwärze.
***
Kommissar Bohleber schaute auf das Klingelschild: »Gisbert Hauer«. Er klingelte und wartete einen Moment. Nichts rührte sich. Es wunderte ihn nicht. Seinen Informationen nach lebte Hauer allein. Aber man wusste ja nie, schließlich wollte er niemanden erschrecken.
Bohleber drückte die nur angelehnte Haustür auf und betrat den Flur. Links ging es in die Küche. Er schaute hinein. Pizzaschachteln formten auf dem Küchentisch eine wackelige Pyramide, Fliegen summten drumherum. In der Spüle stand schmutziges Geschirr. Durch ein zerbrochenes Fenster zog es, die Splitter der Glasscheibe lagen auf dem Boden. Er schob einige von ihnen mit der Schuhspitze zur Seite. Warum hatte die niemand aufgekehrt? Er ging weiter. Heruntergelassene Rollläden verdunkelten das Wohnzimmer. Als er den Schalter betätigte, riss das Licht der Deckenlampe moderne, aber einfache Möbel aus der Dunkelheit. Eine weitere Tür ging vom Flur ab. Bohleber trat in den Raum ein. Ein Computer summte, die Schreibtischlampe warf einen hellen Kegel auf die Arbeitsoberfläche. Verstreut lagen Briefe herum. Auf dem Schreibtisch, auf dem Boden, einer klebte von Tesa gehalten am Rand des Monitors. Bohleber ruckelte an der Maus, und der Monitor erwachte zum Leben. Das Icon eines Players leuchtete auf. Bohleber startete das Programm. Eine Stimme erklang und berichtete von einer Kirmes. Er hörte eine Weile zu. Der Sprecher – offenbar Gisbert Hauer selbst – gab den Sensationsreporter, Verbitterung färbte die Stimme.
Ein frustrierter Mensch, kombinierte Bohleber. Nach und nach hörte er in andere Episoden rein. Dann stoppte er das Programm und las den Brief, der am Monitor klebte. Eine Klage. Bohleber hob den Stein auf, der einige Briefe auf dem Schreibtisch beschwerte. In denen drehte sich alles um Unterlassungsforderungen, Schadensersatz und Verleumdung. Es war unschwer zu erkennen: Gisbert Hauers Feinde waren zahlreich.
Die beiden Friedhofswärter hatten ihn heute Morgen tot auf dem Hauptweg des Friedhofs gefunden, die Kleidung verdreckt und vom Regen durchnässt. Zwar deutete alles auf ein natürliches Ableben hin, doch Bohleber wollte sich trotzdem ein wenig umhören. So ganz traute er dem Braten nicht. Warum sollte jemand mitten in der Nacht auf dem Friedhof rumrennen, dazu noch in derart schmutziger Kleidung?
Es wurde Zeit, einige Fragen zu stellen.
***
Bohleber lehnte sich an die Werkbank. »Wie lange kannten Sie Gisbert Hauer schon?«
Der Werkstattmeister wischte sich die öligen Hände mit einem Putzlappen ab. »Seit der Grundschulzeit. Schon damals habe ich ihn nicht gemocht.« Er spie jedes Wort aus.
»Warum nicht?«
»Der lebte in einer anderen Welt, erzählte reihenweise Lügen, der Lump.«
»Lügen?«
Der Meister zuckte mit den Schultern. »Dass wir ihn schlagen würden und so ein Zeug.«
»Und?«
»Nichts und! Alles gelogen.«
»Hatten Sie Streit mit ihm?«
Der Meister warf ärgerlich seinen Putzlappen in die Ecke. »Sein Auto habe ich ihm repariert und einen guten Preis gemacht. Und dann ist die Karre einmal nicht angesprungen, und der er macht darüber so ein Podcastdings, im Internet, so was wie Radio, nur …«
»Ich bin im Bilde.«
Der Werkstattmeister deutete mit dem Daumen über die Schulter zu dem Wagen auf der Hebebühne. »Ich hab es ja nicht so mit dem neumodischen Kram. In den Karren ist inzwischen auch so viel Elektronikfirlefanz drin, man glaubt es kaum. Alles teuer und unzuverlässig. Früher …«
»Was ist jetzt mit Herrn Hauer?«, unterbrach Bohleber.
Der Werkstattmeister grunzte verächtlich. »Der Lump hat mich hingestellt, als würde ich nur bescheißen.«
»Und? Gibt es ein Körnchen Wahrheit?«
»Bei mir läuft alles korrekt ab. Aber durch Gisberts blödes Gequatsche … das kann einem Kleinunternehmer das Kreuz brechen. Da musste ich was unternehmen. Habe mir einen Anwalt genommen.«
»Nur einen Anwalt? Oder gab es noch andere Aktionen?«, bohrte Bohleber nach.
Der Werkstattmeister runzelte die Stirn. »Hä?« Dann schien der Groschen zu fallen. Er ballte die Fäuste. »Glauben Sie etwa, ich habe was mit Gisberts Tod zu tun?«, schrie er.
»Auf dem Land nimmt man die Dinge manchmal selbst in die Hand, oder etwa nicht?«
Für einen Augenblick schien es, als würde der Werkstattmeister Bohleber anspringen wollen. Dann aber drehte er sich um, nahm einen Schraubenschlüssel aus der Werkzeugkiste und stellte sich unter die Hebebühne. »Raus hier! Kommen Sie wieder, wenn Sie was gegen mich in der Hand haben!«
***
In der Kirche roch es nach Weihrauch.
Pfarrer Nolte saß neben Bohleber auf der vordersten Kirchenbank, die Hände zum Gebet gefaltet.
»Gisbert Hauer hat behauptet, Sie wären Alkoholiker«, kam Bohleber sofort zur Sache.
Ein mildes Lächeln stahl sich in Pfarrer Noltes Mundwinkel. »Ja, ja, der Gisbert. So war er. Die verwirrte Seele erzählte viel Unfug, wenn der Tag lang war.«
»Sie nehmen die Anschuldigung augenscheinlich sehr gelassen hin. Wühlt Sie das nicht auf?«
»In meinem Beruf lernt man zu vergeben. Sobald man verzeiht, ist das Herz wieder offen für die Liebe, und das Gemüt ist besänftigt.«
»Und damit sind Sie mit dem Thema durch? Besteht bei Ihnen nicht der Wunsch, die Angelegenheit richtigzustellen? Oder … ähm … anders zu klären?«
Das Lächeln des Pfarrers ging in ein Schmunzeln über. »Ich bitte um Entschuldigung, Herr Kommissar, dass ich trotz des traurigen Anlasses Ihres Besuchs von Heiterkeit ergriffen werde. Ich bin ein Mann der Worte, nicht der handgreiflichen Taten. Denn das ist es doch, auf was Sie hinaus wollen, oder nicht? Was für ein Bild eines Geistlichen haben Sie im Kopf? Don Camillo und Peppone? Rache ist die Freude der Kleinkarierten. Ich bin alles andere, nur nicht das.«
***
Ortsvorsteher Hannes Ohlbrück setzte die Zitzenbecher der Melkmaschine am Kuheuter an. Mit einem fluppenden Geräusch saugten sie sich fest. »Mit dem Geseier über das Inter-Netz hat sich der Lump selbst ins Knie geschossen, der verdrähte Hongk, der.« Ohlbrück tippte Bohleber auf die Brust. »Damit ist er zu weit gegangen.«
Bohleber zog ein Tempo aus seiner Hosentasche und wischte über den Fleck, den Ohlbrücks schmutziger Finger auf der Jacke hinterlassen hatte. »Sie hören sich an, als wären Sie froh, dass Gisbert Hauer tot ist.«
»Bin ich auch.«
Eine Kuh muhte, eine andere antwortete.
»Sie geben das so freimütig zu? Sie haben aber schon verstanden, dass ich von der Polizei bin?«
»Ich habe nichts zu verbergen, und ich werde nicht mit meiner Meinung hinter dem Berg halten. Gisbert war ein … wenn Lisbeth nicht gewesen wäre …« Er schüttelte traurig den Kopf, sein Zorn verrauchte. »Nettes Fraumensch.«
»Hauer war liiert?«
»Sogar verheiratet.«
»Sehr interessant. Wo finde ich diese Lisbeth?«
Ohlbrück setzte die Zitzenbecher bei der nächsten Kuh an, dann wischte er sich hastig mit dem Ärmel über die Augen. »Es … ach, lassen Sie mich einfach in Ruhe. Gehen Sie zum Doktor, ich habe alles gesagt.« Fest presste der Bauer die Lippen aufeinander.
Mit einem stummen Fluch verließ Bohleber den Stall. Die Sturheit der Eifeler ging ihm mitunter derart gegen den Strich, dass er am liebsten losbrüllen würde.
***
Eine Sprechstundenhilfe führte den Kommissar in ein holzvertäfeltes Behandlungszimmer. Ein massiver Eichenschreibtisch dominierte den Raum. An ihm saß ein drahtiger Mittfünfziger.
»Wie geht es Ihnen, Herr Kommissar?«, fragte Doktor Poensgen und wies auf den freien Stuhl.
Irritiert nahm Bohleber platz. »Warum wollen Sie das wissen?«
Der Doktor fixierte ihn über den Rand der Lesebrille. »Ihre Augen scheinen mir ein wenig trüb. Irgendwelche Schmerzen? Unwohlsein?«
»In letzter Zeit nicht, nein. Aber …«
Der Doktor kam um den Tisch herum. Er umfasste Bohlebers Handgelenk und prüfte den Puls. »Etwas schnell. Treiben Sie Sport?«
Bohleber wurde es zu bunt. Er riss seinen Arm zurück und stand ebenfalls auf. »Ich bin nicht hier, um mich untersuchen zu lassen.«
Doktor Poensgen hob die Augenbrauen. »Nicht?«
»Ich komme wegen Gisbert Hauer.«
Langsam nickte der Doktor. »Verstehe. Polizist, nicht wahr? Als Privatpatient waren Sie mir sympathischer.«
»Können wir uns jetzt wieder setzen?«
Der Doktor nickte erneut. »Gisbert ist an einem Herzversagen gestorben. Das habe ich heute morgen so bescheinigt.«
»Sie wurden also gerufen, um den Totenschein auszustellen?«
»Richtig.«
»Sie hegen keine Zweifel an einer natürlichen Todesursache?«
»Nicht den geringsten. Ein verschleppter Vireninfekt vor einigen Jahren hat Gisberts Herz geschwächt. Dazu das Übergewicht. Geraucht hat er auch wie ein Schlot. Es passt also alles zusammen.«
»Ich werde eine Autopsie anordnen.«
»Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Wenn Sie unbedingt Steuergelder verschwenden wollen.«
»Litt Gisbert Hauer noch an anderen Krankheiten?«
»Wie Sie wissen, Herr Kommissar, darf ich das nicht ohne weiteres beantworten.« Der Doktor breitete entschuldigend die Arme aus. »Schweigepflicht. Da kann man nichts machen.« Er tippte etwas auf seiner Computertastatur.
Genervt rieb sich Bohleber den Nasenrücken. »Hören Sie, Herr Doktor …«
»Ich bitte um Entschuldigung«, unterbrach ihn der Arzt. »Ich bin sofort zurück.« Ohne Bohlebers Reaktion abzuwarten, rannte er aus dem Behandlungszimmer und warf die Tür hinter sich zu.
Verwundert starrte Bohleber ihm nach. Was war das denn jetzt gewesen? Er stand auf und bemerkte das Leuchten des Monitors. Als er sich so hinstellte, dass er den Bildschirm sehen konnte, las er, was dort stand. In der ersten Zeile stand Hauer, Gisbert und das Geburtsdatum. Dann folgte offensichtlich die Anamnese. Interessiert überflog Bohleber die Zeilen.
***
Eine halbe Stunde später standen Bohleber und der Doktor vor einem Grab. Ein schlichtes Holzkreuz zierte das Kopfende.
»Verfolgungswahn, Realitätsverlust … Paranoia. Wer hätte das gedacht«, murmelte der Kommissar.
»Ich vermute, es lag immer schon in Gisberts Genen«, erläuterte der Doktor. »Es bedurfte nur eines Auslösers, einen Triggers, damit Gisbert vollkommen abdrehte, wenn Sie mir die umgangssprachliche Ausdrucksweise verzeihen. Aber das bringt es ohne Umschweife auf den Punkt. Letztes Jahr verbrachte Gisbert sogar sechs Monate im Jeckes … ähm … entschuldigen Sie, ich meine natürlich in der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Düren. Gisbert rannte nachts durch die Gegend und suchte nach Lisbeth. Er rief nach ihr. Gisbert glaubte wahrhaftig, Lisbeth würde noch leben. Niemand hier im Dorf konnte mehr ein Auge zumachen. Da musste ich etwas unternehmen, ich habe die Stadt und die Kollegen in Düren benachrichtigt.« Der Doktor wies zum Holzkreuz. »Lisbeth ist letztes Jahr verstorben. Ein tragischer Autounfall. Gisbert beschuldigte alle und jeden. Der Werkstatt unterstellte er, die Bremsen falsch eingebaut zu haben. Dem Pfarrer, den Wagen nicht richtig gesegnet zu haben. Mir sagte Gisbert nach, ich hätte eine schlimme Krankheit bei ihr übersehen, mit der sie nicht mehr hätte Auto fahren dürfen. Und Ohlbrück warf er an den Kopf, Lisbeth aus Eifersucht umgebracht zu haben.«
»Ohlbrück war in Lisbeth Hauer verliebt?«
Der Doktor nickte.
»Und dieser … Trigger … war also der Tod seiner Frau?«
Wieder nickte der Doktor, dann seufzte er. »Tragisch. Gisbert ist einfach nicht über den Tod seiner Frau hinweggekommen. Um sich zu schützen, hat er sich seine eigene Realität erschaffen. Kaum zu glauben, was der menschliche Geist alles vermag.«
»Da haben Sie vermutlich recht«, stimme Bohleber zu.
»Kommen Sie jetzt alleine klar? Ich muss wieder in die Praxis.«
Sie verabschiedeten sich. Danach blieb Bohleber noch einen Moment grübelnd am Grab stehen. Gisbert Hauer hatte sich vergangene Nacht in etwas hineingesteigert. Es musste so schrecklich gewesen sein, dass er dadurch an Herzversagen starb. Nach einer Weile griff er sein Handy und telefoniert mit der Klinik in Düren. Ein freundlicher Oberarzt bestätigte ihm, was Doktor Poensgen berichtet hatte. Fall gelöst.
Nein, nicht wirklich, denn es hatte nie einen Fall gegeben, nur eine Tragödie.
Bohleber beschloss, ins Präsidium zurückzukehrenfahren. Als er den Wagen in Richtung Ortsausgang steuerte, entdeckte er an der Ecke Graf-Schall-Straße/Johannes-Platz den Pfarrer und den Doktor. Er ging zu seinem Wagen und fuhr los. Kurz vor dem Ortsausgang entdeckte er den Pfarrer und den Doktor. Sie standen auf dem Bürgersteig und unterhielten sich. Ebenfalls anwesend waren Ohlbrück, der Werkstattmeister und einer der beiden Friedhofswärter. Sie alle winkten ihm zum Abschied freundlich zu.
***
»Da fährt er hin«, sagte der Ortsvorsteher.
»Jetzt können wir feiern«, sagte der Werkstattmeister.
»Wir sind den Lump endlich los«, freute sich der Friedhofswärter.
»Na, na, na, die Herren. Bitte bei aller Freude über das Ableben unseres Lumps bitte nicht vergessen, dass es eine gequälte Seele war«, wandte der Pfarrer ein.
Die anderen senkten verlegen die Köpfe.
»So ist es richtig«, sagte der Pfarrer. »Also gut, ich habe noch ein Fläschchen vorzüglichen Messwein im Keller.«
»Rotwein ist gut für’s Herz«, sagte der Doktor. Er gähnte herzhaft. »Lange werde ich aber wohl nicht durchhalten. Ich habe letzte Nacht kaum geschlafen.«
Der Ortsvorsteher klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. »Ja, ja, das war … ähm … ich meine … der Vollmond! Der raubt einem den Schlaf.«
»Der Vollmond … ja, der ist schlimm. Ganz schlimm«, murmelte der Friedhofswärter und rieb sich müde die Augen.
»Aber ein Gläschen wird schon noch drin sein, bevor wir in den Schlaf der Gerechten fallen«, sagte der Werkstattmeister.
Lachend machten sie sich auf den Weg zum Pfarrhaus.

